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MODELL DER ETHNOGENESE DER SLAWEN AUF DER GRUNDLAGE EINIGER NEUERER FORSCHUNGEN

Andrej Pleterski

Ausgangspunkte

Alle bisherigen Modelle, die sich auf eine selbstverständliche feste Dreiergruppe von Ethnos, Sprache und archäologischer Kultur gründeten, waren mehr oder weniger erfolglos, und zwar aus mehreren Gründen. Die ethnische Bestimmung ist Sache der geistigen Sphäre des menschlichen Daseins und muß nicht unbedingt einen materiellen äußeren Niederschlag finden. Ich werde das Problem der ethnischen Bestimmung des einzelnen übergehen und mich auf den Ethnos als Ganzen konzentrieren. Die Auffassung des Ethnos vor tausend Jahren und noch früher war nicht so beschaffen wie heute. Die sinnvollste Definition des damaligen Ethnos (gens) ist meines Ermessens eine Gruppe von Menschen, die durch ein rechtlich-ideologisches System vereinigt waren, wobei ich beispielsweise Religion, Tradition als Teile der Ideologie betrachte. Teil dieses ideologischen Systems konnte, aber mußte nicht unumgänglich auch die Sprache sein. Eine solche Ethnosbestimmung ermöglichte auch einen mehrmaligen Wechsel der Identität des einzelnen, was wir ausnahmsweise anhand der schriftlichen Quellen verfolgen können. Auch große Bevölkerungsgruppen wechselten beinahe ebenso spielend die ethnische Zugehörigkeit, was z.B. in der Ethnogenese der germanischen Völker vielfach anschaulich bezeugt ist. Welche diejenigen Eigenschaften des rechtlich-ideologischen Systems sind, die die Archäologie aufzuspüren vermag, wissen wir, um die Wahrheit zu sagen, noch nicht mit Sicherheit. Der archäologische Erkenntnisprozeß steckt größtenteils noch in der intuitiven Anfangsphase. Aber schon jetzt ist zu ersehen, daß die Archäologie hier nicht völlig machtlos ist. Das Werkzeug, mit dem sie größere Menschengruppen zu erforschen versucht, heißt archäologische Kultur. Diesen Begriff gebrauche ich im Sinne von Menge von Eigenschaften der Spuren menschlichen Daseins, die man in einem Raum feststellen kann und die sich von anderen derartigen Mengen von Eigenschaften in benachbartem Raum und benachbarter Zeit unterscheiden. Das, worauf ich mich bei der Entwicklung des ethnogenetischen Modells noch stützen werde, ist die Entstehung und Entwicklung der Sprache. Dabei werde ich von dem wahrscheinlichsten Axiom ausgehen, daß die Sprache auf revolutionär- evolutive Weise entsteht, also als Folge äußerer Einflüsse und innerer Entwicklung. Die äußeren Einflüsse können verschiedenartig sein, z.B. wirtschaftlich, politisch, ethnisch. Zusammen mit den inneren Veränderungen hinterlassen sie ihre Spuren in der Sprache oder auch in den archäologischen Quellen. Die Verknüpfungspunkte zwischen Ethnos, archäologischer Kultur und Sprache sind der Raum und die Zeit. Hierbei stütze ich mich auf das Axiom, daß es zu bestimmter Zeit in einem bestimmten Raum vorübergehend zu einer Übereinstimmung von mindestens zwei der besagten drei Momente kommen kann, in Ausnahmefällen sogar von allen dreien zugleich. Von der Richtigkeit der Bestimmung solcher Übereinstimmungspunkte hängt die Zuverlässigkeit des Modells ab. Größere Aufmerksamkeit werden wir der Übereinstimmung von Sprache und archäologischer Kultur zuwenden, eine geringere hingegen der Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen slawischen Ethnos. Dabei werde ich versuchen, zwischen den Slawen als Ethnos und den Slawen als Gruppe von Menschen, die slawisch sprechen, zu differenzieren. Den Begriff "Slawe" werde ich größtenteils in der zweiten Bedeutung gebrauchen, es sei denn, ich weise ausdrücklich auf die ethnische Bedeutung hin.

Vor kurzem zeigte M. Parczewski anhand einer planmäßigen Studie der gesamten frühen Materialien Polens und deren genauer typologischer Analyse, daß die Slawen in Polen nicht autochthon sind, sondern von Osten dorthin eingewandert sind, wobei sie zunächst den südöstlichen Teil Polens Ende des 5. Jhs. zu besiedeln begannen (Parczewski 1993, 131 ff.). Ihren archäologischen Niederschlag finden sie in der Prager-Kultur. Damit wurde ein schwerwiegendes Argument für das Modell des östlichen Ursprungs der Slawen ins Feld geführt. Nach momentanem Forschungsstand ist die Prager-Kultur am unumstrittensten die älteste slawische Kultur. Geringere Gewißheit herrscht gegenüber der Penkovka-Kultur und eine noch geringere gegenüber der Koločin-Kultur. Den Ursprung der beiden letzeren bringt die Mehrzahl der Forscher mit der Kiewer-Kultur in Verbindung, auch die Prager-Kultur wird von einigen aus dieser abgeleitet. Doch ein Großteil der Archäologen vermutet den Ursprung der Prager-Kultur in der černjahiv-Kultur, die allerdings einen archäologischen Reflex der gotischen Gens darstellt (Wolfram 1979, 41 ff.). Aus retrograden Gründen ist nach einer solchen Interpretation das Slawentum der Kiewer-Kultur bedenklich und der Ursprung der Slawen aus der gotischen Gens ziemlich befremdlich. Nur mit der retrograden Methode kommen wir hier nicht weiter.

Bevor ich mit der Konstruktion des eigenen Modells beginne, das den besagten Stillstand erklären und beseitigen soll, werde ich einige Anhaltspunkte im linguistischen Modell der Entwicklung der slawischen Sprache suchen. Einen sehr brauchbaren und objektiven Überblick über die bisherigen Forschungen bietet H. Popowska - Taborska (1993). Zu den unumstrittensten Feststellungen gehören die folgenden: die engen baltoslawischen sprachlichen Beziehungen sprechen für eine enge (gemeinsame) Entwicklung dieser beiden Sprachgruppen. In einem gewissen Zeitraum haben sich diese beiden Gruppen geteilt. Es gab eine sekundäre Beziehung zu den Vorgängern der Italiker und Germanen. Die Verbindungen mit den keltischen und iranischen Sprachen sind noch schwer bestimmbar. Im Hinblick auf das phonetische und morphologische System kann man von einer Einheit des Urslawischen sprechen, im Hinblick auf die Lexik war es dagegen ziemlich vielfältig. Die phonetischen Unterschiede im Slawischen traten erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. im Prozeß der ausgedehnten Abwanderung der Slawen auf (Popowska-Taborska 1993, 145 f.). - Diese Feststellungen führen zum Ausgangsgedanken, daß wir das Ursprungsgebiet der Slawen bei dem Ursprungsgebiet der Balten suchen müssen bzw. das Gebiet der baltoslawischen Sprachgemeinschaft finden.

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