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MODELL DER ETHNOGENESE DER SLAWEN AUF DER GRUNDLAGE EINIGER NEUERER FORSCHUNGEN

Andrej Pleterski

Urslawen

Kurz nach Mitte des 1. Jhs. wurde der gesamte Bereich der Zarubincy-Kultur von einer Krise erschüttert, die die Aufgabe der Gräberfelder und zahlreicher Sieldungen bewirkte, es kam zu massenhaften Wanderbewegungen und die Siedlungen wurden auf höhergelegenen Terassen errichtet (Oblomskij 1987). Der wahre Grund dafür ist noch unbekannt. Im Mittel-Dnjepr-Gebiet konnte dies auf die sarmatischen Eroberungen zurückzuführen sein, aber nicht anderswo. Daneben folgte den anfänglichen Feindseligkeiten eine Zeit der Beziehungen zu den Sarmaten, wovon die Funde der einen auf den Fundstätten der anderen zeugen (Oblomskij 1987, 69). Das Pripjat-Polesien ist gänzlich verödet und dies konnten, wie Kasparova nachgewiesen hat, nicht neue Siedler aus dem Gebiet Polens bewirken, weil alle Zarubincy-Gräberfelder bis Mitte des 1. Jhs. aufgegeben werden, die Wielbark-Gräberfelder beginnen dagegen erst in der zweiten Hälfte des 2. Jhs. (Kasparova 1989, 280). Kozak (1992, 23) sucht eine Erklärung dafür in natürlichen Kataklysmen. Die Krise bezieht sich auf die Grenze zwischen der reifen Zarubincy-Kultur und ihrer späten Stufe (Oblomskij 1987, 68).



Abb. 5. Die Urslawen in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. und im 2. Jh.
1. Die Polesien-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 2. Die Mittel-Süd-Bug-Gruppe der Zarubincy-Kultur, Typ Rahni. 3. Die Typ-Ljutiž-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 4. Die Ober-Dnjepr-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 5. Die Typ-Počep-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 6. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Westteil. 7. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Ostteil. 8. Die Typ-Grini - Vovki-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 9. Die Zubra-Gruppe. 10. Die Wanderung einer Gruppe der Zubra(?)-Bevölkerung.

Die gesamte Bevölkerung der Zarubincy-Kultur zieht in hohem Maße in die nordöstlichen Gebiete (Abb. 5). Am Desna-Fluß ensteht im Gebiet der älteren Juhnov-Kultur, offensichtlich durch Assimilation der baltischen Altansässigen, eine neue Gruppe - die Počep-Gruppe, die einige Autoren eine Zeitlang als eigenständige Kultur betrachteten. Nach Ansicht Sedovs sollen die Siedler der Zarubincy- Kultur schon zuvor dorthin gezogen sein und sich mit der Juhnov-Urbevölkerung vermischt haben, die massenhafte Abwanderung erfolgte aber erst Ende des 1. Jhs. (Sedov 1970, 42). Maksimov setzt die Entstehung der Gruppe in die späte Zarubincy-Zeit (Maksimov 1991, 4). Sie bewahrte einige Merkmale der Juhnov-Kultur, z.B. die langen, rechteckigen oberirdischen Gebäude mit dem Pfostenbau (Frolov 1979, 71). Im allgemeinen deuten ihre Merkmale jedoch hin auf eine Verbindung zur Mittel-Dnjepr-Gruppe der Zarubincy-Kultur (Oblomskij 1992, 43), die nach momentaner meistvertretener Auffassung ihren Ursprungsbereich darstellt. In den späteren Gruppen der Kiewer-Kultur findet sie keine Fortsetzung, deswegen ist Oblomskij (1992, 45) der Ansicht, daß deren Bevölkerung noch im 2. Jh. ihr Gebiet verläßt. Dies stimmt überein mit der älteren Behauptung, die Moščiny-Kultur im Ober-Oka-Einzugsgebiet sei entstanden durch die Ansiedlung der Bevölkerung der Počep-Gruppe und ihrer Verschmelzung mit den baltischen Urbewohnern (Abb.7: 4, 10) zu einer neuen Kulturgemeinschaft. Im 8. - 10. Jh. schließt sich ihr die Kultur der slawischen Vjatičen an, die aber mit der Moščiny-Kultur nicht genetisch verbunden sein soll (Sedov 1982, 43 f.).

Die Zarubincy-Besiedlung erfaßt auch den Bereich des linken Dnjestr-Ufers, vom Sejm nach Süden und bis zum Oberlauf des Oskol im Osten. Es handelt sich um ein Gebiet, das größtenteils schon in der Zeit vom 3. - 2. Jh. v. Chr. verlassen worden ist (Sedov 1965, 57). Hier bildet sich die Gruppe (Abb. 5: 6, 7) der Fundorte des Typs Kartamyševo-2 - Ternovki-2 heraus, die desgleichen aus dem Mittel-Dnjepr-Gebiet stammen soll (Oblomskij 1992, 43). Im Hinblick auf einzele Merkmale wurde sie von Oblomskij (1992, 40) in zwei ethnographische Bereiche geteilt, deren Grenze die Dnjepr- und Don-Wasserscheide bildet. Bei der Bildung der Westgruppe sollen in kleinerem Maße auch die Siedler vom Bereich der Przeworsk- Kultur beteiligt gewesen sein, die angeblich ihre Spuren in der Keramikverzierung und der besonderen Schüsselform hinterlassen haben (Oblomskij 1991, 46 f.). Es handelt sich um den Typ III3b nach Oblomskij, der in dieser Zeit nur bei dieser Gruppe der Zarubincy-Kultur vorgekommen sein soll, ansonsten aber auch für die Przeworsk-Kultur und die Volinien-Podolische-Kultur (Oblomskij 1991, 80). Fundorte mit Przeworsk-Funden, wie sie Maksimov (1991, Ris. 3) kartiert hat, sind mehr oder weniger in gerader Linie von den Vorskla-Quellen nach Westen angeordnet, den Sejm und die Desna entlang, fast bis zum Dnjepr, die ganze Zeit in Richtung Pripjat-Polesien. Hier stellt sich die Frage, des weiteren Schicksals der Polesien-Gruppe der Zarubincy-Kultur aus der vorangehenden Epoche.



Abb. 6. Die Urslawen in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. und im 2. Jh.
1. Die Mittel-Süd-Bug-Gruppe der Zarubincy-Kultur, Typ Rahni. 2. Die Typ-Ljutiž-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 3. Die Ober-Dnjepr-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 4. Die Typ-Počep-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 5. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Westteil. 6. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Ostteil. 7. Die Typ-Grini - Vovki-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 8. Die Zubra-Gruppe. 9. Die Zuwanderung einer Gruppe der Przeworsk-Bevölkerung. 10. Die Zuwanderung einiger Gruppen der Strichkeramik-Kultur-Bevölkerung.

Wie schon erwähnt, Polesien war verödet, die Zarubincy- Bevölkerung zieht größtenteils nach Süden und Südwesten bis zum linken Ufer des nördlichen Dnjestr in Volinien und Nordgalizien (Kozak 1992, 23 ff.). Eine kleinere Gruppe zieht nach Westen in das Tal des Mittel-Bugs und in Richtung Narew und vermischt sich mit der dortigen Przeworsk-Bevölkerung. Auf den Gräberfeldern Krupice und Hryniewicze Wielke findet sich neben Przework- Material auch solches aus der späten Zarubincy-Zeit, das man in anderen Fundorten anhand von Schnallen in das letzte Viertel des 1. Jhs. oder den Beginn des 2. Jhs. datieren kann (God³owski 1985, 63). Das Zusammenleben mit der Przeworsk-Bevölkerung ist auch charakteristisch für die Zarubincy-Kulturen, die nach Süden und Südwesten wanderten (Abb. 5: 7). Eigene Siedlungen haben sie nicht gegründet, alle Fundorte, die von der Mitte des 1. Jhs. an entstehen, weisen vielmehr auf gemischtes Przework- und Zarubincy-Material (Kozak 1988, 108). Das ist zugleich der Beginn einer neuen Kulturgruppe (Abb. 5: 9), wofür Kozak vor kurzem den Namen Zubra vorgeschlagen hat (Kozak 1992, 23), der alte Name ist Volinien- Podolische. Die Abwanderung aus Polesien kann man sich so leichter als allmählichen Prozeß vorstellen, der einige Jahrzehnte andauern konnte, denn als einmaligen Akt. Es erhebt sich auch die Frage, ob es sich bei den "Przeworsk"-Eigenschaften in der Westgruppe der Fundorte des Typs Kartamyševo-2 - Ternovki-2 eigentlich nicht um Zubra-Merkmale handelt, demnach dürften wir vermuten, daß ein Teil der Bevölkerung der neu kolonisierten Zarubincy-Bereiche auch vom Gebiet der Zubra-Gruppe kommt (Abb. 5: 10). Schon aus demographischen Gründen kann man sich nämlich nur schwer eine "östliche" Zarubincy-Gesamtkolonisation als einmalige Abwanderung vorstellen, denn der Ausgang aus dem Mittel-Dnjepr- Bereich wäre dafür zu klein gewesen. Sie mußte allmählich erfolgen. Ein Beweis dafür wäre der Spät-Zarubincy-Fundort Berezovka 2 an der Vorsklica, der sich von den benachbarten Fundorten des Typs Kartamyševo-2 - Ternovki-2 unterscheidet und starke Ähnlichkeiten mit der Siedlung Ljutiž im Mittel-Dnjepr-Gebiet aufweist (Oblomskij 1994, 44). Wenn der Ursprung der Fundorte des Typs Kartamyševo-2 - Ternovki-2 in der Tat ebenso im Mittel- Dnjepr-Gebiet liegt, konnte es deshalb zu dem besagten Unterschied gekommen sein, weil Berezovka 2 durch eine jüngere Kolonisation im 2. Jh. entstanden ist. Desgleichen ist die Einwanderung kleinerer Bevölkerungsgruppen vom Bereich der Strichkeramik-Kultur zu erkennen (Abb. 6: 10). Ihre Fundorte befinden sich im Bereich der Ober-Dnjestr-Gruppe sowie der Gruppen des Typs Grini - Vovki und Kartamyševo-2 - Ternovki-2, ihrer Westgruppe (Maksimov 1991, 6 und Ris. 7).

In der Spät-Zarubincy-Zeit sind in der Mittel-Dnjepr-Gruppe zwei Fundorttypen zu unterscheiden, Ljutiž (Abb. 5: 3) und Grini - Vovki (Abb. 6: 7). Der andere mit dem Fundort Zmiivka am Snov-Fluß reicht bis zum Gebiet der Gruppe des Typs Počep (Oblomskij 1992, 34 f. und Ris. 1), seinem Ursprung nach steht er in Verbindung mit der Ober- Dnjepr-Zarubincy-Gruppe (Abb. 5: 4, 8), mit ihren nördlichen Fundorten des Typs čečersk - Kisteni (Oblomskij 1994, 47). Datiert ist er schlecht. Größtenteils wird er in die Zeit von der zweiten Hälfte des 2. Jhs. bis zur Wende vom 2. zum 3. Jh. gesetzt (Oblomskij 1994, 47), wonach wir schließen könnten, daß er jünger ist als der Typ Ljutiž und mit den frühen Fundorten der Kijewer-Kultur zeitlich in Berührung kommt. Terpilovskij (1984, 81) sieht darin den Übergang von den Spät-Zarubincy- zu den frühen Kiewer-Fundorten.

Noch immer besteht die Gruppe des Typs Rahni am Fluß Sib (Abb 5: 2), dem linken Nebenfluß des Süd-Bug, und die Ober-Dnjepr-Gruppe mit dem Burgwall čaplin (Maksimov 1991, 6). Die Angaben über sie sind zu bescheiden, als daß man sie in die Karte anders als nur schematisch hätte einzeichnen können (Abb.5: 4). Ob beide Gruppen bei der "Ostkolonisation" mitwirken, ist nicht erforscht. Schon allein die Nachbarschaft der Ober-Dnjepr-Fundorte mit Fundorten des Typs Počep und die Milograd-Tradition der eingetieften Počep-Wohnbauten, die von Pfostenlöcher umgeben sind (Frolov 1979, 71), verleiten wenigstens im Hinblick auf die Ober-Dnjepr-Gruppe zu diesem Gedanken.



Abb. 7. Die Urslawen in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. und im 2. Jh.
1. Die Mittel-Süd-Bug-Gruppe der Zarubincy-Kultur, Typ Rahni. 2. Die Typ-Ljutiž-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 3. Die Ober-Dnjepr-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 4. Die Typ-Počep-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 5. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Westteil. 6. Die Typ Kartamyševo-2 - Ternovki-2-Gruppe der Zarubincy-Kultur, der Ostteil. 7. Die Typ-Grini - Vovki-Gruppe der Zarubincy-Kultur. 8. Die Zubra-Gruppe. 9. Die Zuwanderung der Wielbark-Bevölkerung. 10. Die Auswanderung der Slawen auf das Ober-Oka Gebiet. 11. Die Auswanderung der Slawen in Budschak-Steppe.

In den Modellen der slawischen Ethnogenese, die den Ursprung der Prager-Kultur im nordwestlichen Teil der černjahiv-Kultur suchen, kommt der Zubra-Gruppe (Abb. 6: 8) immer größere Bedeutung zu. Das neueste Modell ihrer Entwicklung stammt von Kozak (1992). Sie ist entstanden durch Verschmelzung der Eigenschaften der Przeworsk- und der Zarubincy-Kultur, wobei die Zarubincy-Elemente im nördlichen Teil in Volinien vorherrschend sind, die Przeworsk- Elemente dagegen im südlichen Teil in Nordgalizien. Nach Volinien kam auch eine kleinere Bevölkerungsgruppe vom Bereich der Strichkeramik-Kultur (Abb. 6: 10). In Nordgalizien wird die Verschmelzung der Lypyca- mit der Przeworsk-Kultur durch die Einwanderung der Zarubincy-Bevölkerung beschleunigt. In der zweiten Hälfte des 2. Jhs. tritt im Dnjestr-Gebiet eine neue kleinere Gruppe der Przeworsk-Bevölkerung (Abb. 6: 9) in Erscheinung, die eine Nebenströmung darstellt, die durch die Abwanderung der Bevölkerung der Wielbark-Kultur ausgelöst wurde. Die Strömung erfaßte vor allem Nordpannonien, in den schriftlichen Quellen wird sie als Vandalenwanderung beschrieben (God³owski 1985, 81 ff.; God³owski 1992, 66). Als die Wanderung der Gutonen gegen Ende des 2. Jhs. (Abb. 7: 9) Volinien und Podolien erfaßt, treten die Fundorte der Wielbark-Kultur als ihr archäologischer Reflex an die Stelle der Zubra-Fundorte. In der materiellen Kultur gibt es keinen Kontakt zu den Altsässigen. Die Zubra- Bevölkerung wich nach Süden, nach Galizien (Abb. 7: 12), die Zarubincy-Gruppe des Typs Rahni (Abb. 7: 1) hingegen wahrscheinlich in die Budschak-Steppe in die Südmoldau, wo eine neue Gruppe des Etulia-Typs entsteht (Abb. 7: 11). Die Besiedlung Galiziens verdichtet sich um das zweieinhalbfache. In dieser Zeit verschwinden dort aus der materiellen Kultur die dakischen Merkmale endgültig. Es beginnt die dritte Stufe der Entwicklung der Zubra-Gruppe, wofür der zunehmende Einfluß der provinziell-römischen Kultur charakteristisch ist, die einen allmählichen Übergang bewirkt zu den Merkmalen der černjahiv-Kultur. Die jüngsten Gegenstände der Zubra-Gruppe bilden gleichzeitig die ältesten der černjahiv-Kultur. Der Übergang von einer Kultur zur anderen erfolgte allmählich im 3. Jh., denn es gibt Fundorte (čerepin, Nezvis'ko, Burštin), wo die Merkmale beider Kulturen vorhanden sind. Der Prozentsatz der handgemachten Keramik wird ständig kleiner, die auf der Töpferscheibe hergestellten nehmen dagegen zu. Ein Bruch in der Besiedlung ist nicht zu erkennen. So scheint die Schlußfolgerung berechtigt zu sein, daß die Grundlage der černjahiv-Bevölkerung dieses Gebietes die Zubra-Altsässigen darstellen (Kozak 1992, 27 ff.). Die slawisch-germano-dakischen Wurzeln der Zubra-Gruppe sind offensichtlich. Was dies für die Sprache und das ethnische Bewußtsein der neuen Gemeinschaft bedeutete, können wir nur vermuten, jeder nach seinen Vorstellungen. Offensichtlich ist nur, daß dann die Gruppe bei der Ethnogenese der Goten mitwirkt, also in der Gemeinschaft, die ihren archäologischen Niederschlag in der černjahiv-Kultur findet.

In der Spät-Zarubincy-Zeit erhalten wir einige Hinweise zur slawischen Ethnogenese auch aus schriftlichen Quellen. Die erste ist die Germania (46) des Tacitus, die in einem weiteren Kontext von Mačinskij und Tihanova (1976, 65 ff.) eingehend analysiert wurde. Sie kamen zu dem ziemlich wahrscheinlichen Schluß, daß man die dort erwähnten Veneter mit der Bevölkerung der Zarubincy-Kultur gleichsetzen kann. Tacitus hätte vor allem ihr westliches Gebiet in Polesien, Volinien und Nordpodolien gekannt. Kolendo (1984, 649) ist der Ansicht, die Veneter des Tacitus seien ein Volk gewesen, dessen Erwähnung die Lücke in der Kenntnis Osteuropas zum Teil füllen würde, deswegen müsse bei der genaueren Lokalisierung Vorsicht geboten sein. Mit diesem Vorbehalt räumt er die Möglichkeit ihrer Lokalisierung in den Bereich der Zarubincy-Kultur ein. Mačinskij und Tihanova (1976, 71) versuchten auch die Erwähnung des Tacitus zu erklären, wonach die Veneter wegen Raubzügen in den Bergen und Wäldern zwischen Peucini und Fenni gestreunt seien. Dabei gingen sie aus von der Entstehungszeit des Taciteischen Werkes in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. und der Krise, welche damals die Zarubincy-Kultur erfaßte. Die Raubzüge interpretierten sie als Bevölkerung, die vor kurzem als militärischer Eroberer in Erscheinung trat, das Gebiet aber noch nicht vollständig erobert hatte. Von diesem Modell bis zur Gleichsetzung der Veneter mit den Einwohnern der Zubra-Kultur fehlte nur noch ein Schritt (Kozak 1992, 31). Nach Kolendo (1984, 649) ist die Angabe über die Veneter, die in den Bergen und Wäldern streunen nur eine rhetorische Figur und kann kein Argument sein bei der Bestimmung ihrer Wohnstätten. Wie aus Kozaks Darstellung der Zubra-Kultur-Genese ersichtlich ist, war sie in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. noch sehr heterogen, deswegen könnten wir sie aufgrund des Zarubincy-Teils ihrer Bevölkerung wirklich auch als venetisch betrachten, ohne dabei das Venetertum der Zarubincy-Kultur im allgemeinen zu negieren. Die Veneter des Tacitus nur auf die Zubra-Gruppe zu beschränken ist aber nicht möglich, schon wegen ihrer späteren Entwicklung nicht, denn die Veneter müßten demnach einen Teil der gotischen Ethnogenese darstellen, die "origo gentis" berichtet aber anders. Darüber hinaus müßten wir sie in diesem Bereich in der Geographie des Ptolemaios erwarten, sie sind aber dort nicht zu finden.

Es ist kein Zufall, daß Ptolemaios (III 5.21), der sein Werk ein Jahrhundert später verfaßte, obwohl er verschiedentlich aus älteren Quellen schöpfte, die Veneter am Baltikum kennt; den Bereich der Veneter des Tacitus nehmen in seiner Beschreibung die Stauanoi ein (Kolendo 1984, 649). Diese siedeln zwischen den Nachbarn der Veneter, den Galindai und Soudenoi auf der einen Seite und den Alanen auf der anderen (Ptolemaios III 5. 21.). Die Alanen kann man mit der sarmatischen Kultur der Zarubincy-Nachbarn gleichsetzen, die Soudenoi und die Galindai dagegen mit den westbaltischen Stämmen der Jatvingen-Sudaven und der Galinden (Okulicz 1986, 29). Südöstlich der beiden baltischen Gruppen lag ein verödetes Land, die zwischen dem Narew- und dem Njemen-Fluß über Polesien bis zur Zarubincy-Bevölkerung am Dnjepr reichte (vgl.: Egorejčenko 1982, Ris. 3; God³owski 1992, Karte 5; Sedov 1970, Ris. 10) und dauerte bis zum 6. Jh. (Ščukin 1988, 211 und Ris. 2). Bei der Aufführung der Völker von Nordwesten nach Südosten, die in der Ptolemäischen Beschreibung Sarmatiens aufeinanderfolgen, ist so die Nachbarschaft der Soudenoi und Stauanoi verständlich, denn sie wurden nur durch die Verödung voneinander getrennt. Eine Gleichsetzung der Stauanoi mit der Bevölkerung der Zarubincy-Kultur erscheint demnach durchaus sinnvoll. Eine Parallele zwischen den Stauanoi und Slauanoi, den Slawen, zog schon Šafaøik und im Anschluß daran erscheint sie den meisten Autoren als denkbar. In der Tat läßt sich "Slavani" aus "Stavani" linguistisch nicht ableiten und auch vom Standpunkt der griechischen Paläographie ist ein einfacher Abschreibfehler, die Verwechslung von Lambda und Tau, nicht wahrscheinlich. In der Tat sind zahlreiche Namen der Ptolomäischen Völker stark entstellt geschrieben, und zwar schon im Archetyp seiner Schrift (Cuntz 1923, 15). Wie es sich in unserem Fall verhält ist nur zu erraten. In der Tat werden aber die Stauanoi im Bereich der Slawen erwähnt, was meines Ermessens dennoch die Behauptung gestattet, daß es sich um die erste Niederschrift des slawischen Namens handelt.

In der Spät-Zarubincy-Zeit kennen also die schriftlichen Quellen schon den Namen der Bevölkerung der Zarubincy-Kultur. Das sind die Slawen-Veneter. Wenn die Etymologie des slawischen Namens aus dem Wort "*slovo" (Maher 1974, 154), der in letzter Zeit immer mehr Linguisten beipflichten (Popowska - Taborska 1993, 60), zutrifft, dann bildete die Sprache, die sich von den benachbarten unterschied, für die Spät-Zarubincy-Bevölkerung ein Unterscheidungskriterium und die Grundlage des Selbstbewußtseins. Das deutet darauf hin, daß der Prozeß der Ethnogenese damals schon zur Entstehung des Ethnos der Slawen geführt hatte, und aus dem sprachlich facettenreichen Anfang hatte sich schon eine hinreichend gemeinsame Sprache entwickelt.

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